
Gestern, am Tag der Bundestagswahl, stand ich am westlichsten Punkt Europas, in der Nähe von Sagres in Portugal. Von hier aus richtet sich der Blick intuitiv gen Westen, hinaus über den Atlantik, Richtung Amerika. Ein gemischtes Gefühl. Der Westen, wie wir ihn kannten, scheint Geschichte zu sein. Die USA stehen vor tiefgreifenden inneren Spannungen und bewegen sich in Teilen in Richtung autokratischer Tendenzen. Mein Blick wanderte ein paar Grad nach rechts, wo Kanada liegt – und es fühlte sich direkt ein wenig wärmer an. Vielleicht ist es in Zeiten des Umbruchs ganz normal, nach Verbindungen zu suchen: Wer teilt noch ähnliche Werte? Auf wen kann man zählen?
Am Aussichtspunkt waren auch viele Briten unterwegs. Der Brexit im Hinterkopf ließ mich ein wenig bedauern, dass sie hier nun als Gäste wirken – getrennt von der europäischen Gemeinschaft. Ganz in der Nähe liegt Gibraltar, ein Tor zwischen Kontinenten, über das viele Geflüchtete nach Europa kommen. Migration – ein Thema, das den Wahlkampf in Deutschland prägte und uns noch lange begleiten wird. Wir werden als Gemeinschaft abwägen müssen zwischen der Gefahr einer Überforderung und unseren europäischen Werten, die uns ausmachen und die wir nicht leichtfertig verraten sollten, sowie neuer Perspektiven, kultureller Vielfalt und der Innovationskraft, die entsteht, wenn Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen.
Mein Blick wanderte weiter nach Osten – zur Ukraine, zum Krieg, nach Russland. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wie werden wir in Zukunft unsere Sicherheit organisieren? Doch auch innerhalb der EU gibt es genug Baustellen: wirtschaftliche Unsicherheiten, der demografische Wandel, Bildungssysteme, die vielerorts nicht mehr mit der Zeit gehen, soziale Ungleichheiten und die große Aufgabe, unsere Demokratien widerstandsfähig zu halten.
Über all dem spannte sich der weite, blaue Himmel – klar und ruhig. Ein Moment der Stille inmitten all dieser Gedanken. Und ich wurde daran erinnert, dass wir als Menschheit eigentlich mit aller Kraft über den Klimawandel, den Schutz der Ozeane und die 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs) nachdenken sollten. Der Himmel über mir wirkte wie ein stiller Mahner – so weit, so verletzlich.
Wenn ich die Wahlergebnisse betrachte, spiegelt das nicht unbedingt meine Vorstellung von Zukunftsfähigkeit wider. Ich hätte mir ein anderes Ergebnis gewünscht. Und doch spüre ich Hoffnung. Trotz der Unsicherheiten ist etwas in Bewegung geraten. Strukturen, die sich jahrzehntelang zäh wie Klebstoff anfühlten, beginnen sich zu lösen. Es liegt an uns, diese Dynamik mitzugestalten – als Zivilgesellschaft, als Organisationen, als Unternehmen.
Dabei geht es nicht nur um Krisenmanagement. Gerade in Zeiten des Wandels entstehen auch Räume für Innovationen – neue Wege in Wirtschaft, Technologie und sozialem Miteinander. Digitalisierung und Regeneration unserer natürlichen Umwelt müssen kein Widerspruch sein. Es sind oft genau die kreativen Lösungen, die zwischen den vermeintlichen Lagern entstehen, die uns voranbringen werden.
Was ich in den letzten Jahren immer mehr glaube: Wir müssen als Menschen unterschiedlicher Hintergründe stärker aufeinander zugehen. So banal es klingt – Reden und Zuhören werden entscheidend dafür sein, ob wir für die großen Herausforderungen gute Lösungen finden. Nicht nur mit denen, die unsere Ansichten teilen, sondern gerade mit denen, die anders denken.
In diesem Sinne wünsche ich der neuen Regierung – auch wenn sie aller Voraussicht nach nicht "meine" sein wird – alles Gute. Im Sinne von uns allen. Denn wir können uns ein Scheitern schlicht nicht leisten. Was wir nun brauchen, ist ein neuer Anfang, ein wenig Aufbruchsstimmung, das Bewusstmachen unserer Stärken und Ressourcen und – ja – ein wenig Optimismus.
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